Die Yogamatte ist für viele eine Art Kultobjekt. Ein Symbol für einen Lifestyle, für Übung, Spiritualität, Ausdruck ihres Menschseins. Ein Raum für sich.
Kürzlich sagte ein Übender in meinem Kurs, er empfinde die Yogamatte als den Ort, wo er bei sich und für sich üben dürfe, so wie er es eben könne. In der nächsten Woche statuierte ich in einer anderen Gruppe: „Die Matte ist eines der größten Probleme im Yoga.“
Zwei Aussagen über den Wert der Matte. Was steckt dahinter?
Hier darf ich sein
Für den oben erwähnten Herrn steht die Yogamatte für einen Ort, der ihm gehört, in der er niemand sein muss, wo er bei sich sein kann, frei von Erwartungen anderer – und sogar von Erwartungen an sich selbst.
Eine andere Dame sagte, die Matte öffne einen Raum, der Schutz bietet, der auch eine Grenze nach außen darstellt. Wir brauchen eine solche Grenze oft, um in unsere Mitte zu kommen, den Alltag loslassen zu können. Frei nach dem Motto: Hier ist meine Matte, hier bin ich Yogi, hier darf ich sein.
Die Yogamatte ist ein Ort der Ruhe, des Friedens, ein Ein-Frieden, ein Mini-Retreat, Ankommen, ein Ort, an dem ich geschützt bin. Ein Ort, an dem ich frei sein darf.
Viele kommen auf die Matte und atmen erstmals am Tag bewusst durch. Die Reaktion auf die Matte ist gleichzeitig geistig wie physisch. Wir kommen zur Ruhe. Wissen, jetzt ist Ich-Zeit – oder Urlaub-vom-Ich-Zeit.
Manchmal frage ich mich, ob nach Jahren der Übung nicht eine Art pawlowsche Konditionierung auf der Yogamatte einsetzt. Unser System konditioniert sich auf die Matte, den Yogaraum, die Umgebung, die Musik, der Parasympathikus wird automatisch (reflexartig) aktiv … Ist das gut? Ist das schlecht?
Hier lebe ich bewusst
Viele Menschen geben sich erst auf der Matte die Erlaubnis, im Moment zu sein. Bei sich. Achtsamkeit zu üben. Sich selbst etwas Gutes zu tun. So schön es ist, birgt es eine Falle: Denn damit stelle ich 90 Minuten auf der Matte dem Alltag gegenüber. Das schafft eine Trennung zwischen dem Leben an sich und der Matte.
Was, wenn Yoga immer wäre? Hiermit meine ich nicht die körperlichen Übungen, sondern die Geisteshaltung, die Yoga an sich ist und übt. Wir kompensieren 16 Stunden unbewusstes Sein mit einigen Minuten Gewahrsein auf der Matte und nennen uns Yogi? Und ohne Matte kriegen wir das nicht hin? Oder geben wir uns nicht die Erlaubnis? Oder können wir es nicht, einfach weil es so verdammt schwierig ist? (Deshalb nennt man Yoga auch einen Übungsweg …)
Hier richte ich mich ein
Eine Matte spannt einen Raum auf. Sie spannt eine Grenze auf, Schutz, ja, aber damit müssen wir bewusst umgehen, sonst richten wir uns in einer Begrenzung ein. Schon im körperlichen Üben können wir das wahrnehmen: Yoga, selbst Flow-Yoga, ist so ausgerichtet, dass wir auf unserer Matte bleiben. Das nimmt uns einen ganzen Kosmos an Möglichkeiten, uns zu bewegen. Es nimmt uns Raum.
Außerdem richtet die Matte uns in einer Komfortzone ein: Außerhalb der Matte ist es hart. Vielleicht werde ich dreckig. Vielleicht gibt es Insekten … Ein Vermeiden setzt ein, und Vermeiden ist nicht Yoga.
Außerdem: Jenseits dieser Matte begegnet uns so viel mehr Sinnlichkeit:
Hier gehe ich in Verbindung
Kommt mal runter von der Matte. Spürt Gras unter euren Zehen. Unebenen Boden. Spürt die Feuchtigkeit von Walderde, die Wärme von Sand an euren Händen. Yoga gehört nicht auf die Matte. Yoga gehört ins Leben.
Widerspricht das jetzt Pratyahara, der 5. Stufe des achtgliedrigen Yogapfades? Nur wenn man dies als ein Zurück-Nehmen der Sinne begreift wie eine Beschränkung der Sinne. Doch ist das gemeint? Ist damit vielleicht nicht gemeint, dass wir sogar mehr wahrnehmen, feiner, und das Erscheinen dieser Phänomene dann ziehen lassen, ohne unseren Geist daran zu heften? Soll sich die Achtsamkeit im Yoga nur nach innen unter die Haut richten? Ist der Kontakt mit der Natur, von Fuß und Waldboden schon ein nach-Außen-Gehen?
Wieso grenzen wir uns so ab, wenn es im Yoga um Verbindung geht?
Hier bin ich frei
Wenn ich Yogameister über Yoga sprechen hörte, führt es immer zu einem, worum es im Yoga ginge: zur Freiheit. Interessanterweise sprach nie jemand darüber, dass es im Yoga um Schutz ginge.
Da liegt meines Erachtens das Problem mit der Matte. Viele kommen nicht dahin, sie als Symbol wahrer Freiheit zu erleben. Das beinhaltet nämlich auch, an nichts anzuhaften und das gilt ebenfalls für die Yogamatte. Sie jederzeit ablegen zu können – und dennoch ganz im Yoga zu sein.
Es ist nicht Falsches daran, die Matte als Schutzraum wahrzunehmen, als einen Ort des Ankommens, des Erwachens, der Aus-Zeit, wo der sogenannte Alltag abfällt. Aber auch diesen Schritt auf die Matte sollten wir bewusst machen. Die eigenen Abhängigkeiten und Muster prüfen.
Frei zu sein von der Matte bedeutet, dass ich mich frei bewegen kann. Frei von Ängsten, Begrenzungen, Anhaftungen an Umstände, frei von Konzepten. Dann ist immer Yoga.
Im Zen-Buddhismus gibt es ein geflügeltes Wort: Wenn dir Buddha begegnet, töte ihn. Könntest du deine Matte verbrennen?
Der Yogaschüler, den ich eingangs erwähnte, merkte, dass er auf der Matte frei ist von Erwartungen und dass dies ein guter Moment ist. Was für eine gewaltige Einsicht. Ich bin sicher, hätte er seine Matte in den Übungen verlassen, er hätte gemerkt: Er kann auch frei sein abseits der Matte.
Yoga ist überall.